In der Netflix-Erfolgsserie „Mindhunter“ befragt der fiktive FBI-Agent Holden Ford – der an den legendären echten FBI-Special-Agenten und Profiler John E. Douglas angelehnt ist – einige der berüchtigtsten Serienmörder seiner Zeit, damit er besser verstehen kann, warum sie solch furchtbare Verbrechen begangen haben.

Die New-York-Times-Bestseller-Autorin Suzy Spencer, die über wahre Verbrechen schreibt, weiß, wie es ist, wenn man einem Mörder von Angesicht zu Angesicht gegenüber sitzt und ihn zu seinem Leben und seinen Gräueltaten befragt. Hier spricht sie darüber, wie sich zwei Mörder während eines Interviews selber verraten haben und wie andere Autoren es vermeiden, von Mördern manipuliert zu werden.

Ich sitze einem kaltblütigen Mörder gegenüber. Er hat nicht nur einen Menschen umgebracht, die Texanerin Regina Hartwell; er ist auch der Hauptverdächtige eines zweiten Mordes. Es wird sogar gemunkelt, dass er ein Auftragskiller der mexikanischen Mafia ist. Unsere Knie berühren sich. Ich rühre mich nicht.

Das war vor 20 Jahren. Wenn ich das Interview heute führen würde, dann würde ich die Worte des fiktiven FBI-Agenten Holden Ford der Netflix-Serie „Mindhunter“ in meinem Kopf hören: „Wir müssen Kommunikation aufbauen. Harmlose Kommunikation.“ Diesen Rat wiederholt Ford in der Serie immer wieder, wenn er darüber spricht, wie man mit Geiselnehmern und Mördern spricht.

In einer späteren Folge ist Ford merklich nervös, als er den Serienmörder Edmund Kemper befragt. Kemper bemerkt das. Ford leugnet seine Angst.

Wenn Justin Thomas, dessen Knie meine berührten, mir gesagt hätte, dass ich nervös sei, hätte ich es auch verneint. Denn ich dachte, dass ich ruhig meinen Job mache, bis er mir die Tattoos auf seinem Körper zeigte.

Es fing  harmlos mit den Tätowierungen auf seinen Armen an. Dann stand Thomas plötzlich auf. Er überragte mich und zog sein weißes Gefängnishemd hoch. Ich habe mich gefragt, ob er sich vor mir ausziehen würde. Aber er zeigte mir nur die spanischen Worte, die auf seinem Rücken zu sehen waren und übersetzte sie mir mit einem Lächeln. Dann hob er vorne sein Shirt und zeigte mir die Tattoos auf seinem Oberkörper. Zu dem Zeitpunkt bemerkte ich ein Funkeln in seinen Augen, als er mich beobachtete, wie ich ihn ansah. Ich habe daran gedacht, dass er Gott weiß wie lang keine Frau mehr gesehen hatte, die keine Gefängnisangestellte war.

Ich bemerkte, dass niemand nach uns gesehen hatte in den Stunden, seit wir in dem Gefängnisbefragungsraum eingeschlossen worden waren. Niemand hatte bisher durch das kleine Fenster in der Tür geguckt.

Als unser vierstündiges Treffen vorbei war und ich gegen die Gefängnistür drückte, merkte ich, dass sie nicht aufging. Ich schlug erneut dagegen, aber sie bewegte sich nicht. Ich bekam Panik, dass ich im Gefängnis gefangen war. Ich bin wirklich nervös gewesen. Nach drei oder vier weiteren Schlägen gegen die Tür bemerkte ich, dass die Tür hinter mir sich noch nicht geschlossen hatte. In einem Gefängnis muss sich immer erst die Tür hinter einem schließen, bevor sich die Tür vor einem öffnet.

Als ich endlich sicher zuhause war, telefonierte ich mit der Herausgeberin von „Wasted“, meinem Buch über Justin Thomas. Sie fragte: „Wie war er? Charmant, oder?“

„Woher wusstest du das?“

„Das sind sie immer.“

„Mörder zu interviewen ist ein bisschen so wie Politiker zu interviewen“, erklärt Caitlin Rother, eine mehrfache Bestseller-Autorin, die unter anderem „Love Gone Wrong“ geschrieben hat. „Sie versuchen, dich einzuschätzen, dich zu drehen, dich zu beeindrucken, dich für sich zu gewinnen, indem sie das erzählen, von dem sie denken, dass du es hören willst. Das liegt daran, dass die meisten Mörder Schwindler und sehr manipulativ sind.“

„Ab dem Moment, in dem man sich vorstellt, wird man wie ein Spielball behandelt und man merkt es nicht einmal“, ergänzt Ron Franscell, ein weiterer Bestseller-Autor, der über wahre Verbrechen schreibt. Von ihm ist unter anderem „The Darkest Night“. „Dein Mörder wird dir ohne Zweifel erzählen, wie nah er sich dir fühlt oder wie sehr er dir vertraut. Es ist Teil seines manipulativen Spiels, weil du denken sollst, ihr seid Kumpel. Es ist wie eine Venusfalle.“

Franscell gibt tatsächlich zu, dass in seinen Dutzenden Interviews mit verurteilten Mördern jeder einzelne versucht hat, ständig mit ihm zu spielen. „Sie sind da, wo sie sind, weil sie hochgradige Psychopathen oder Soziopathen sind und sie nur an sich selbst denken. Aber sie sind auch großartige Verwandlungskünstler, die sich ihrer unmittelbaren Umgebung anpassen – du inbegriffen. Und wenn du am Ende überzeugt bist, dass es sich bei ihnen um anständige Leute handelt, die sich in einer misslichen Situation befinden, dann hast du verloren.“

Deswegen recherchieren die meisten Autoren, die über wahre Verbrechen schreiben, vorher gründlich, bevor sie sich mit ihnen treffen. Wir lesen ihre Gerichts- und Gefängnisprotokolle. Wir gucken uns ihre Krankenakten und psychologischen Gutachten an. Wir sprechen mit Polizisten. Wir sprechen mit ihren und den gegnerischen Anwälten. Wir beobachten sie vor Gericht und/oder lesen ihre Gerichtsmitschriften. Erst dann schreiben wir einen Brief, in dem wir um ein Gefängnisinterview bitten.

Durch ihre Anwälte, Freunde und Familienmitglieder wissen sie meistens schon, dass es uns gibt und dass wir ein Buch über sie schreiben. Vielleicht haben sie uns sogar im Gericht beobachtet. Es mag gut oder schlecht sein, auf jeden Fall haben wir schon eine Art Beziehung aufgebaut.

Trotzdem ist das erste, was ich tue, wenn ich mit einem Mörder spreche – und es ist das erste, was die meisten Autoren, die über wahre Verbrechen schreiben, machen – dass ich sage, dass ich nur ihre Seite der Geschichte hören will. Ich, beziehungsweise wir, müssen aufrichtig in dieser Sache sein. Dann fange ich mit einfachen Fragen an, wie zum Beispiel: „Erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit.“ Wenn sie sich bei mir entspannen können, frage ich sie, wie sie ihr Opfer getroffen haben (obwohl ich nie „das Opfer“ sage. Ich benutze stattdessen den Namen des Opfers). Letztendlich schlängele ich mich durch, bis ich sie dazu bringe, ihre Seite des Mordes zu erzählen. Dann lasse ich sie reden, denn Mörder haben ihr gut einstudiertes chronologisches Gerede perfektioniert, mit dem sie glauben zu erklären, wie und warum sie unschuldig sind. Und egal, was sie sagen, ich, beziehungsweise wir, reagieren nicht.

Franscell erinnert sich an ein Interview mit einem Dreifach-Mörder, der seine Opfer für fast zwei Monate in einer verlassenen Mine versteckte. „Ich saß ganz ruhig da, während er beschrieb, wie er ihr verwesendes Fleisch in seinen Armen zur nächsten Müllhalde brachte.“

Aber ruhig zuzuhören und unsere Unterbrechungen ihrer einstudierten Erzählungen gut zu timen, hilft uns, zur Wahrheit durchzudringen. Sie befinden sich zum Beispiel in der Mitte ihrer Erzählung und ich springe plötzlich zum Anfang ihrer Geschichte zurück und werfe ein paar seltsame oder  scheinbar harmlose Fragen ein, die überhaupt nicht zum Thema passen. Oder ich springe in der Zeit nach vorne. So oder so bringt es sie aus ihrer eingeübten Geschichte raus. Und dann sagen sie etwas, das sie nicht verraten wollten und genau das kann das Pikante sein, das sie belastet.

Als ich für mein Buch „The Fortune Hunter“ Celeste Beard befragt habe, die eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes an ihrem reichen Ehemann absitzt, musste ich schnell arbeiten. Das texanische Gefängnissystem hat die Interviewregeln seiner Insassen geändert und ich hatte nur eine Stunde – auf die Minute genau – um das Interview zu machen.

Die Staatsanwaltschaft hatte argumentiert, dass Celeste ihre lesbische Geliebte Tracey Tarlton überredet hatte, Celestes Mann zu töten. Außerdem argumentierten sie, dass Celeste den Mord bis ins kleinste Detail geplant hatte. So soll sie Tracey durch das ganze Haus geführt und ihr gezeigt haben, wo sie reinkommen, was sie tun und wo sie rausgehen soll. Celeste stritt ab, dass sie und Tracey Geliebte seien und sie leugnete, dass es eine Führung durch das Haus gegeben habe. Ich habe also bei ihrer gut einstudierten Geschichte auf jedes Detail geachtet.

Als meine 60 Minuten um waren, fing die Wache an, mich aus dem Gefängnis zu hetzen, aber Celeste wollte noch reden. Ich wusste, dass das meine Chance war. Das war der Zeitpunkt, an dem sie unvorsichtig werden würde. Als ich den Raum verließ und mein Diktiergerät noch lief, rief ich wahllose Fragen und Celeste rief ihre Antworten zurück. Als ich sie fragte, wie Tracey in jener Nacht in das Haus gekommen war, antwortete Celeste, dass sie dachte, es wäre nur ein Zufall gewesen, denn „wenn sie nicht sauer gewesen wäre, hätte sie sich an den Rundgang erinnert.“

Celeste Beard hatte sich gerade selbst verraten und nach einer kurzen Pause realisierte sie das, weil sie schnell hinzufügte „wenn es wirklich einen Rundgang gegeben hätte.“

Ich habe auf ihren Narzissmus gesetzt und so getan, als glaubte ich ihren Übertreibungen und dann habe ich sie ins offene Messer rennen lassen.

Ganz ähnlich war es bei Justin Thomas, als er den Mord an Regina Hartwell leugnete, aber zugab, ihre Leiche verbrannt zu haben. Als er sich bei mir entspannt hatte, fragte ich locker, was ihm durch den Kopf gegangen sei, als er ihre Leiche verbrannte. Er sagte: „Dieser Kram kann nicht schon wieder passieren.“

Dieses „wieder“, das ich auf Band hatte, war genug, um ihn wegen des zweiten Mordes vor Gericht zu bringen, weil er bei dem Mord auch die Leiche verbrannt hatte. Und es war genug, um ihn für schuldig zu erklären. Justin Thomas sitzt jetzt in der Todeszelle.

Wie Holden Ford sagte: „Wir müssen Kommunikation aufbauen. Harmlose Kommunikation.“

 

- Suzy Spencer